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1. August 2016
Annette Switala

Wer sich nicht bewegt, verklebt

„Move or die“ lautete am 12. und 13. Februar 2016 der kämpferische Titel des diesjährigen Sport­medizinischen Symposiums des Sportmedizinischen Instituts Frankfurt a.M. und der Orthotech GmbH. Wer sich nicht bewegt, dessen Faszien verkleben und fibrotisieren, war die eine Assoziation dazu. Doch auch für das Sportmedizinische Symposium stellte sich die Frage, ob das 20. Jubiläum die letzte Ausgabe der beliebten Veranstaltung werden würde.
Veranstalter
Foto: privat

Das Publikum zeigte sich erleichtert, dass Prof. Heinz Lohrer gleich zu Beginn Entwarnung geben konnte: Obwohl er Ende des Monats das Sportmedizinische Institut verlassen und sich in einer Privatpraxis in Wiesbaden niederlassen werde, werde es in genau dieser Form am gleichen Ort weitergehen, versicherte er.  Prof. Wilfried Alt überraschte Prof. Lohrer mit einem  Rückblick auf 20 Jahre Sportmedizinisches Symposium und manch humorvoller Erinnerung an das ursprüngliche Dreigespann Lohrer, Alt und Gollhofer, die es 1997 in Wiesbaden gründeten. Er sprach Prof. Lohrer ein großes Lob für das aus, was er in der Folge aus der Veranstaltung gemacht hat.

„Der Umfang der wöchentlichen Bewegung ist der größte Einflussfaktor für die Gesundheit eines Menschen“, führte Prof. Lohrer in das Thema des Symposiums ein. Er zeigte auf, wie Sport Volkskrankheiten, wie Diabetes, Bluthochdruck, Krebs, Depression, Osteoporose und Demenz, günstig beeinflusst. Untersuchungen in Regionen, in denen Menschen signifikant älter werden, zeigen, dass Bewegung und Sport, Ernährung und soziales Milieu von hohem Einfluss sind. „Man geht heute davon aus, dass nur ein Drittel der Gesundheit und der Lebenserwartung genetisch und zwei Dritte extern beeinflusst sind“, so Prof. Lohrer. „Es gibt kein Methusalem-Gen!“.

Irrwege der Faszienforschung

Durch die breite, auch von Publikumsmedien getragene Diskussion über Faszien haben sich in den letzten Jahren auch ­einige Irrtümer verbreitet, machte Prof. Werner Klingler, Neurochirurgische Universitätsklinik Ulm, deutlich. So werde fälschlicherweise oft angenommen, dass fasziales Gewebe eine Halbwertzeit von einem Jahr habe. Klingler erläuterte jedoch, dass sich manche festere Kollagenfasern im Erwachsenenalter nicht mehr nachbilden. Allerdings könne das Hyaloron, ein wichtiger Bestandteil des Fasziengewebes, binnen weniger Minuten erneuert werden. Ein Vorgang, der sich durchaus stimulieren lasse.

Prof. Klingler zeigte auf, dass sich Faszien, anders als vielfach angenommen, auch unabhängig von den Muskeln trainieren lassen, wobei die Dosierung der Belastung ausschlaggebend dafür sei, welches Gewebe erreicht werde. Interessanterweise liege die Reizschwelle für einen Trainingseffekt bei Sehnen deutlich höher als bei Muskeln und intramuskulärem Bindegewebe. Es stimme auch nicht, dass dehnbare Waden einen Vorteil gegenüber festen Waden haben – je steifer die ­Sehne, umso mehr Beschleunigungsenergie könne sie zum Beispiel bei Hochleis­tungsläufern freisetzen.

Die Sehne als serienelastisches Element

Besonders in populärwissenschaftlicher Literatur zur Faszienforschung werden Begrifflichkeiten oft vermischt, kritisierte Prof. Albert Gollhofer, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Insbesondere dürfe man parallelelastische und serienelastische Elemente der Faszien nicht in einen Topf werfen, betonte er. In seinem Vortrag widmete sich Gollhofer der Sehne, die er insofern als serienelastisches Element versteht, als sie mit dem Muskel verbunden ist.

„Die Sehne hängt aber nicht einfach passiv am Muskel, sondern sie ist dabei hochdynamisch aktiv!“, so Prof. Gollhofer. Eine wichtige Funktion der Sehne im Zusammenspiel mit dem Muskel sei die Kraftübertragung, wobei die Sehne stark zu einer Geschwindigkeitsreduktion beitrage. Dieser Mechanismus ermögliche es dem Muskel-Sehnen-Komplex, höhere Kräfte zu produzieren; zudem biete er Schutz vor Überlastungen und Spannungsspitzen.

„Die Sehne fungiert bei der Fortbewegung als Energiespeicher“, zeigte Gollhofer auf. So verkürze sich beispielsweise der Wadenmuskel beim Gehen in der Phase des Bodenkontakts kaum, die Achillessehne hingegen arbeite stark. In der Propulsionsphase werde die in der Achillessehne gespeicherte Energie wieder freigesetzt; die Sehne funktioniere dabei wie eine Feder. Der Muskel habe beim Gehen hingegen fast ausschließlich eine Haltefunktion.

Wie Prof. Gollhofer mit Bezug auf eine neuere Studie darlegte, birgt nicht nur die Sehne, sondern auch der Muskel, einen Federmechanismus. So seien die Myosinfilamente in den Sarkomeren (kleinste kontraktile Einheit des Muskels) über das Eiweißprotein Titin „aufgehängt“ und befestigt, das härtere oder weichere spiralige Formen annehmen könne. Vermittelt über die Titin-Filamente erhalte der Muskel bei Dehnungen eine inhärente Steifigkeit, deren Energie ebenfalls federartig wieder freigelassen und genutzt werden könne.

Wie Studien zeigten, hat das dominante Bein des Menschen häufig eine leistungsfähigere Sehne als das nicht-dominante Bein. Außerdem haben Pa­tienten 2–6 Jahre nach einer Achillessehnen-OP häufig eine steifere Sehne am operierten Bein. Im Gangbild könne dies eine Tendenz zur Eversion des verletzten Beins und eine Tendenz zu einer eingeschränkten Plantarflexion zur Folge haben, erklärte Gollhofer. Er wies zudem auf eine Studie hin, derzufolge Muskelkrafttraining eine positive Wirkung auf die Steifigkeit der Sehne und die Leis­tungsfähigkeit des Muskel-Sehnenkomplexes hat – auch bei älteren Menschen.

Krafttraining im Alter

„Der Erhalt von Kraft und Muskelmasse im Alter ist möglich“, sagte Prof. Urs Granacher, Universität Potsdam, mit Verweis auf Spitzensportler, „aber sie ist die Ausnahme, nicht die Regel“. Normalerweise ist die Muskelmasse bei Über-65-Jährigen gegenüber 35-Jährigen signifikant reduziert, ebenso die Kraft, das Gleichgewicht und die Mobilität. In der Folge steigt das Sturzrisiko.

Durch Studien ist belegt, dass Krafttraining die Kraftfähigkeit im Alter verbessern kann und einen geringen Effekt auf den Erhalt der Muskelmasse hat, so Granacher. In einer Dosis-Wirkungs-Analyse konnte er zeigen, dass eine Trainingsdauer von 50–53 Wochen mit wöchentlich zwei Trainingseinheiten und einer relativ hohen Trainingsintensität am ehesten die gewünschten Effekte zeigt.

Als ernüchternd bezeichnete Prof. Granacher jedoch den Effekt von Krafttraining auf Gleichgewicht und Mobilität. Hier zeigte sich nur bei sehr alten, gebrechlichen Menschen eine positive Wirkung, und auch nur dann, wenn das Training mehr als 50 Wochen mit einer hohen Intensität durchgeführt wurde.

Zusammen mit Prof. Albert Gollhofer konnte Prof. Granacher jedoch in einer Studie zeigen, dass Schnellkrafttraining, das mit weniger Last, aber schnelleren Bewegungen arbeitet, durchaus positive Effekte auf die Mobilität älterer Menschen zeigt, beispielsweise auf die Verbesserung der Gehgeschwindigkeit. Auch gezieltes Rumpf­krafttraining verbessere nachweislich ihre Mobilität.

In Bezug auf die Sturzhäufigkeit zeigt Krafttraining keine Effekte; es sollte daher mit Gleichgewichtstraining kombiniert werden, das nachgewiesenermaßen die höchsten Effekte hinsichtlich der Vermeidung von Stürzen hat.

Krafttraining quantifizieren und steuern

Zwar weiß man mittlerweile, welche Parameter relevant sind, um im Krafttraining bestimmte Ziele erreichen zu können, doch in der Praxis tut man sich schwer, Daten zu erheben und zu dokumentieren. Niklas Brown, Universität Stuttgart, entwickelte im Rahmen seiner Dissertation einen „intelligenten Krafttrainingsassis­tenten“ in Form einer App, den Prof. Wilfried Alt vorstellte.

Das dazugehörige Messsystem arbeitet vor allem mit Initialsensoren, wobei Beschleunigungssensoren und Gyroskope kombiniert wurden. Aus einer Vielzahl an Daten, die Brown an Sportlern erhob, ermittelte er Parameter, die die Ermüdung des Sportlers beim Krafttraining erkennen lassen. Brown entwickelte einen Algorithmus, den er in eine Software implementierte. Die dazugehörige App macht, ausgehend von dem Ermüdungszustand des Sportlers, konkrete Vorschläge zur Modifikation des Trainings.

„Dahinter steckt eine sehr komplexe Entwicklung“, erklärte Prof. Alt. „Egal, wer den Inertialsensor anlegt: Das Sys­tem muss sofort nach dem Einschalten erkennen, wann eine Bewegung eine Ermüdung des Sportlers erkennen lässt und wann nicht.“ Anders als andere Krafttrainingsassistenten ist das System frei anwendbar und nicht nur auf zuvor einprogrammierte Übungen beschränkt.

Muskel- und Faszienketten aktivieren

„Falsche Körperstrategien bei wiederkehrenden Bewegungen sind eine häufige Ursache für verheerende Verletzungen, die unter sporartspezifizischen Maximalbelastungen entstehen“, eröffnete OSM Michael Kriwat seinen Vortrag. Besonders Defizite der Rumpfmuskulatur seien häufig Gründe für solche verletzungsträch­tigen Bewegungsausführungen.

Kriwat setzt Tests und Übungen, die Dr. Christopher M. Powers und Kirsten Götz-Neumann im Rahmen des Konzepts „Gehen verstehen“ entwickelt haben, im Mannschaftssport ein, um Verletzungen vorzubeugen und die Leistungsfähigkeit der Sportler zu stärken. Mit dem Kniestrategietest, seitlichen Abbremsbewegungen (Side Steps) und Richtungswechseln wird der Sportler in eine Stressbelastung gebracht, dabei wird  die Ausführung der Bewegungen analysiert. Aus den Abweichungen von der optimalen Bewegungsausführung wird ersichtlich, welche Muskeln und Faszienketten eines gezielten Trainings bedürfen.

Mit Hilfe spezieller Aktivierungs­übungen, die er ebenfalls Powers und Götz-Neumann entlehnte, können Bewegungsabläufe im Sinne einer höheren Verletzungsprophylaxe optimiert werden, berichtete Michael Kriwat aus seiner Zusammenarbeit mit einer Fußballmannschaft.

Craniomandibuläre Dysfunktion: Netzwerkarbeit gefragt

OSM Andy Herzer stellte die Vielzahl an Professionen vor, mit denen Ortho­pädieschuhmacher zusammenarbeiten, wenn es beispielsweise um die Versorgung des diabetischen Fußsyndroms, von Sportlern oder Schmerzpatienten geht. Dass in einem solchen interdisziplinären Netzwerk wichtige Impulse auch von der Kieferorthopädie ausgehen können, stellte der Orthopädieschuhmachermeister aus Schwäbisch-Gmünd anhand der Craniomandibulären Dysfunktion (CMD, eine Fehlregulation der Muskel- oder Gelenkfunktion der Kiefergelenke) dar.

Über den Kauapparat, so Herzer, können hohe Kräfte in die Wirbelsäule ­eingeleitet werden, bei Dysfunktionen ­können auch Muskeln und Gelenke außerhalb des Kaugelenks überlastet werden. Herzer stellte die Applied Kinesiology als eine diagnostische Methode vor, mit der durch eine manuelle Testung einzelner Muskeln Aussagen über funktionelle Zusammenhänge von Störungen möglich sind. Sie eröffne einen ganzheitlicher Blick auf die CMD.

Bei der Komplexität des Krankheitsbildes könne neben einer psychologischen Schmerztherapie, einer physio­therapeutischen und osteopathischen Behandlung, schmerztherapeutischen und umweltmedizinischen Maßnahmen die Orthopädie­schuh­technik mit einer propriozeptiven Einlagenversorgung einen wichtigen Beitrag zur Behandlung der orthopädischen Beschwerden und Schmerzen leisten.

Ursache und Therapie der Achillodynie

Der letzte Vortragsblock des Symposiums beschäftigte sich mit Achillessehnenbeschwerden. Wie Bernd Herbeck, Sportomed Reha GmbH, klarmachte, ist die Achillodynie, anders als man früher meinte, keine Entzündungsreaktion. Eine Schmerzmedikation zeigt daher nur kurzfristige Effekte. Heute geht man davon aus, dass sich die Sehne durch die Bildung von Typ-3-Kollagen verdickt; als Ursache werden genetische Voraussetzungen, Stoffwechselprobleme, hormonelle Veränderungen und Negativ-Faktoren im neuromuskulären System diskutiert. Auslöser sind häufig kurze, repetitive Kraftspitzen, wie sie vor allem im Laufsport auftreten.

„Die Therapieschritte müssen in einer bestimmten Reihenfolge erfolgen“, betonte Herbeck. Am Anfang stehe die Schmerzreduktion und Durchblutungsförderung, dann folge die Beweglichkeitsförderung der Strukturen, die Anbahnung physiologischer Bewegungsmuster und schließlich die Förderung der Kraft- und Koordinationsfähigkeit. Unter der großen Auswahl an physiotherapeutischen Möglichkeiten sei exzentrisches Training besonders zu empfehlen. „Es ist vor allem die Haltemuskulatur, die trainiert werden muss“, so Herbeck, „in diesem Fall der M. soleus.“

Saubere Differen­tialdiagnostik erforderlich

Prof. Lohrer stellte klar, dass es den verschiedenen Krankheitsbildern im Bereich der Achillessehne nicht gerecht wird, wenn man, wie es in der englischsprachigen Forschungsliteratur gemacht wird, nur zwischen Sehnenansatzproblemen und Problemen in den übrigen Bereichen der Sehne unterscheidet.

„Wir haben hier drei Krankheitsbilder“, so Lohrer. Wie er ausführte, ist dies einmal die Achillodynie (englisch: „Mid-portion Achilles tendinopathy“), die sich in Schmerz, Schwellung und einem teilweisen Funktionsverlust der Achillessehne bemerkbar macht. Das zweite Krankheitsbild, die Bursitis subachillea, ist eine Schleimbeutelreizung. „Hier wird oft fälsch­licherweise an einen Haglund-Höcker gedacht, man sollte aber sinnvollerweise von Bursitis sprechen, um richtig behandeln zu können“, betonte Lohrer. Erst sekundär können aus einer unbehandelten Bursitis Achillessehnenbeschwerden resultieren. Als drittes Krankheitsbild ist der dorsale Fersen­sporn zu differenzieren.

Prof. Heinz Lohrer stellte eine Reihe von Operationsmethoden vor, mit denen schwere degenerative Achillessehnenerkrankungen und distale Risse behandelt werden können. Während frühere OP-Methoden mitunter schwere Komplikationen zur Folge hatten, erzielen verbesserte Methoden heute gute Erfolge.

„Man muss Sportlern jedoch den Zahn ziehen, nach wenigen Wochen wieder voll leistungsfähig zu sein“, berichtete Lohrer. Die Nachbehandlung erfolge in  Stabilschuhen, die eine Fersenerhöhung von 2 bis 2,5 Zentimetern aufweisen müssen, um Elongationen der Achillessehne zu vermeiden. „Je kürzer die Achillessehne initial gestellt wird, desto besser wird das funktionelle Ergebnis langfristig ausfallen“, so Prof. Lohrer.

Patientenrelevante Fragebögen bei Achillessehnenpathologien

Die subjektive Zufriedenheit von Patienten in Bezug auf Alltag und Sportfähigkeit ist einer der Parameter, mit dem die Ergebnisqualität einer Rehabilitation gemessen werden kann, erklärte Dr. Tanja Nauck, SMI Frankfurt. Zur Erfassung der Patientenzufriedenheit gibt es eine Reihe von patientenorientierten, krankheitsspezifischen, standardisierten Fragebögen. Um aussagekräftig und vergleichbar zu sein, müssen sie in einem aufwändigen Verfahren in die jeweilige Sprache übersetzt und in dieser Übersetzung validiert werden. Dr. Nauck und Kollegen validierten den VISA-A-Fragebogen in deutscher Sprache – in Bezug auf die Achillodynie sowie die Haglund-Fersenexostose erwies sich seine Validität und die Reproduzierbarkeit seiner Ergebnisse. Für die Achillessehnenruptur steht die deutsche Übersetzung und Validierung des ATRS (Achilles tendon total rupture score), der in englischer Sprache validiert ist, noch aus.

Artikel aus Orthopädieschuhtechnik 5/2016

 

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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