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1. August 2016
Redaktion

Faszien als körperumspannendes Netzwerk

Seit dem ersten Faszienforschungskongress 2007 an der Harvard Universität in Boston wächst das Interesse von Wissenschaftlern, Klinikern und Manualtherapeuten am faszialen System. Das Verständnis der Faszien als übergeordnetes dreidimensionales Netzwerk unseres Körpers eröffnet zahlreiche neue Blickwinkel, beispielsweise auf die Funktion des Bindegewebes, das Zusammenspiel zwischen Muskeln und Sehnen und auf Schmerzen.
Von Udo Winterhalter, mit Prof. Werner Klingler

Foto: Printem/Fotolia

Der Begriff der Faszien wird je nach Anwender völlig unterschiedlich verwendet. Während „die Faszien“ beispielsweise in der Manualtherapie manchmal verallgemeinernd als körperweites Signal- und Spannungsnetzwerk verstanden werden, wird nach der strengen Nomenklatur des „Federative International
Committee on Anatomical Terminology” (FCAT) jede Faszie mit einer spezifischen anatomischen Bezeichnung definiert. Aktuell arbeiten Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit dem FCAT an einer neuen Definition des Faszienbegriffs. Im Wesentlichen basieren die Vorschläge für die Neu-Definition auf den Eigenschaften der Faszien als kollagenes, faseriges Bindegewebe mit Bezug zur Spannungs­übertragung.

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Aufbau der Faszien
Das fasziale System differenziert sich anatomisch im Wesentlichen in eine oberfächlichere Schicht (Fascia super­ficialis), eine tiefere, derbere Schicht
(Fascia profunda) sowie organspezifische Ausprägungen, wie Gelenk- und Organkapseln. Dieses unterscheidet sich in der Dichte und der Faserstruktur.
Der überwiegende Anteil der Faszien besteht aus Kollagen, welches mit zirka 30 Prozent das hauptsächlich vorkommende Protein im Körper darstellt. Die Zellen machen nur einen geringen Anteil des Gesamtvolumens aus. Die Kollagenfasern sind in eine extrazelluläre Matrix eingebettet. Der überwiegende Bestandteil dieser Grundsubstanz besteht aus Wasser, welches an Glycosaminoglykane, Proteoglycane und spezielle Proteine, wie beispielsweise Hyalorunan, gebunden ist. Die Wasserbindung ist entscheidend für die biomechanischen Eigenschaften der Faszien, wie beispielsweise der Gleitfähigkeit, Energiespeicherkapazität und Scherbeweglichkeit.
Physiologisch hängt die Wasserbindung von zahlreichen Faktoren ab. Hierzu zählen der orthostatische Druck, Lymphe, Temperatur, Säure-/Basenhaushalt, sowie auch das Lebensalter. Interessanterweise hat ein Neugeborenes über 80 Prozent, ein Senior zirka 50–60 Prozent Wassergehalt im Körper.
Allerdings finden sich im Gewebswasser auch Stoffwechselabfallprodukte, die mit Schmerzen und Verkrampfungen zusammenhängen können. Spezielle Übungen mit Aktivierung der Wadenpumpe oder mit Ausrollen auf einer Schaumrolle und auch manuelle Therapie können helfen, den Stoffwechsel im
faszialen Gewebe anzuregen, den Austausch von Gewebswasser zu fördern, damit im übertragenen Sinne jung zu bleiben und die fasziale Gleitfähigkeit zu bewahren.

Das Biotensegrity-Konzept
Neben der Wasserbindung und der Beschaffenheit der extrazellulären Matrix hängen die biophysikalischen Eigenschaften von faszialem Gewebe insbesondere auch von der Dichte, Ausrichtung, Regularität und vor allem der Quervernetzung (Crosslinks) der Kollagenfasern ab. Aufgrund der Bedeutung der Faszien für die Belastbarkeit und äußere Erscheinung unseres Körpers wurde der Begriff „Biotensegrity“ geprägt. Darunter versteht man, vereinfacht dargestellt, ein biologisches Bauprinzip (Bio), welches auf einem Zusammenspiel von Druck- und Zugbelastungen (tension) aufgebaut ist, aber gleichzeitig einen hohen Bewegungsspielraum sowie Stabilität gewährleistet (integrity).
Das Konzept der Biotensegrity erklärt auch, dass Fas­zien Kräfte über laterale Vernetzungen umlenken, Energie puffern und Bewegungen ähnlich der Servolenkung beim Auto verstärken können. Dies gilt insbesondere auch für das fasziale System der Unterschenkel mit direkten myofaszialen Verkettung bis zur Rückenfaszie.
Überraschende Ergebnisse liefern hierzu funktionelle Ultraschalluntersuchungen an der Unterschenkelmuskulatur. Im Gegensatz zur klassischen Vorstellung, arbeitet die Wadenmuskulatur beim Gehen und Laufen annähernd isometrisch. Die eigentliche ­Verkürzung und Elongation erfolgt durch fasziales Binde­gewebe. Besonders die Achillessehne mit ihren faszialen Begleitstrukturen arbeitet hier wie eine elastische Feder, die kinetische Energie aufnehmen, speichern und abgeben kann. Untersuchungen von Prof. Adamantios Arampatzis an der Humboldt Universität Berlin konnten zeigen, dass nach spezifischem Training der Achillessehne der Sauerstoffverbrauch bei Läufern sinkt, was bei Athleten einen Wettbewerbsvorteil darstellen kann. Auf der anderen Seite wird klar, dass Verspannungen, Schmerzen, Fehlhaltungen nach Verletzungen oder Unfallereignissen auch weit entfernt von der ursprünglichen Stelle der Läsion auftreten können.

Faszialer Schmerz
Gerade im Bereich der Skelettmuskulatur bilden die Muskeln mit den umgebenden und durchdringenden faszialen Geweben eine funktionelle Einheit. Allerdings sind die Faszien ungefähr 6-mal dichter mit Nerven versorgt als die Muskulatur selbst. Anstelle von Muskelkater müsste man eigentlich eher von „Faszienkater“ sprechen, denn hier sind die freien Nervenendigungen, die physikalische Reize, aber auch Schmerzen und Anhäufungen von Stoffwechselendprodukten (zum Beispiel Laktat) in der extrazellulären Matrix registrieren.  
Interessanterweise bestehen Verbindungen zwischen diesen Nerven und dem Teil im menschlichen Gehirn, der für unser Gefühlsleben zuständig ist. In der Tat konnte wissenschaftlich gezeigt werden, dass für fasziale Schmerzen häufig emotionale Begriffe wie beispielsweise „quälend“ oder „schrecklich“ verwendet wurden, während die reinen Muskelschmerzen eher sachlich als „dumpf“ oder „drückend“ beschrieben wurden.

Die Plantarfaszie
Alle oben genannten Aspekte gelten insbesondere auch für die Plantarfaszie (Fußgewölbsfaszie). Die Plantarfaszie zeichnet sich aus durch eine biomechanische Vernetzung mit dem Unterschenkel bis hin zum unteren Rücken sowie durch eine ausgeprägte Wahrnehmungsfunk­tion am Fuß – nicht nur als Sensor für die Bodenbeschaffenheit und Gewichts­belas­tung, sondern auch als propriozeptives Element für koordinativen Höchst­leistungen beim Gehen und Laufen.
Bei fehlender Tiefensensibilität kommt es zu einem roboterartigen oder hölzernen Gangbild. Auf der anderen Seite ist es wissenschaftlich belegt, dass eine Verbesserung beziehungsweise ein Training der Propriozeption durch Wechselwirkungen auf Rückenmarksebene  dem Schmerzempfinden entgegenwirkt. Im Klartext heißt das, dass eine Stimulation der Fußsohle auch Wirkungen auf die koordinativen Fähigkeiten, die sportliche Leistungsfähigkeit aber auch auf die Lumbalfaszie und Wirbelsäule haben kann.

Übungen an der Plantarfaszie
Abb. 1 zeigt eine Therapie an der Plantarfaszie. Diese nutzt die faszialen Verbindungen zum gesamten Bein und dem Rücken und bezieht die sensorische Funktion der Faszien ein. Der rechte Fuß des Kindes wird leicht gebeugt (dies ist aus biomechanischer Sicht sinnvoll). Das Sprunggelenk wird mit einer Hand fixiert, die Hand gibt einen leichten Druck nach unten. Die andere Hand bearbeitet die Plantarfaszie. Durch den Druck der Faust und eine Bewegung auf das Fußgewölbe werden die Rezeptoren der Fußsohle stimuliert. Auch die Rezeptoren des Fußgelenkes werden mit dieser Übung angesprochen.
Eine weitere Übung (Abb. 2) bezieht sich auf die Wassertransportfähigkeit der Faszien und ist der Lymphdrainage entlehnt. Eine Hand liegt an der Wade des Patienten, dessen Fuß in einer leichten Dorsalextension am Bein des Behandlers aufliegt. Mit sanftem Druck führt die Hand eine Pumpbewegung nach oben/außen oder oben/innen Richtung Hüfte aus (wegen der Anatomie der Faszien sollte die Seitwärts-Verschiebung mit einer Drehbewegung erfolgen). Die andere Hand des Behandlers liegt am unteren Schienbein und schiebt nach oben. Auf diese Weise wird einerseits die Venenpumpe und andererseits das Lymph- und Fasziensystem aktiviert, so dass der Wasseraustausch im Gewebe angeregt wird.
Eine einfache Partnerübung, die vor allem Kindern Spaß macht, ist in Abbildung 3 zu sehen. Zwei auf dem Boden gegenüber liegende Personen drücken zwei kleine, harte Bälle mit den Fußsohlen gegeneinander. Dies allein übt bereits Druck auf die Fußsohle aus und trainiert die Sensomotorik. Nun werden die Bälle an den beiden Fußsohlen hin und her bewegt. Auch Einzelpersonen können die Plantarfaszie und benachbarte fasziale Strukturen wirkungsvoll stimulieren, indem sie einen Ball zwischen beiden Füßen bewegen oder „Greifübungen“ mit den Füßen ausführen.
Faszientraining ist in jedem Alter zu empfehlen. Die Übungen sollten allerdings dem Alter, dem individuellen Leis­tungsniveau und der Krankheitsgeschichte angepasst sein. z

Literatur
Schleip, Robert, Baker, Amanda (Hg): Faszien im Sport und Alltag. Riva-Verlag. 2015.

Anschrift für die Verfasser:
Faszienforschungsteam Prof. Werner Klingler
Neurochirurgische Universitätsklinik
Ulm-Günzburg
Bezirkskrankenhaus Günzburg
Ludwig-Heilmeyer-Str. 2
89312 Günzburg

Ausgabe 5/2016

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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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