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28. Juli 2016
Annette Switala
AG FUSS DDG

Anforderungen an Diabetesschutzschuhe genauer definieren

Diabetesschutzschuhe standen im Mittelpunkt des Orthopädieschuhtechnik-Workshops auf der 24. Jahrestagung der AG FUSS, zu der am 4. und 5. März 2016 über 160 Orthopädieschuhmacher und Podologen nach Radolfzell kamen. Wie unterschiedlich die Vertragssituation mit den Kranken­kassen in verschiedenen Bundesländern aussieht, war eines der Themen im Plenum.
Foto: privat
Prof. Ernst Chantelau (Mitte) wurde für seine Verdienste um die Behandlung des Diabetischen Fußsyndroms zum Ehrenmitglied der AG FUSS ernannt (links: Prof. Ralf Lobmann, rechts: Dr. Wolf-Rüdiger Klare).

Nachdem die Konkretisierung der Versorgung in der Risikoklasse VII des Diabetischen Fußsyndroms im letzten Jahr erfolgreich verabschiedet worden war (veröffentlicht in Orthopädieschuh­technik 9/2015), konnte sich der Work­shop Orthopädieschuhtechnik nun neuen Aufgaben widmen. Jürgen Stumpf, Monika Spengler und Herbert Türk stellten vor allem das Thema Diabetesschutzschuhe zur Diskussion – und damit die Versorgung in den Risikoklassen II und III.

„Im Moment gehen die Krankenkassen sehr unterschiedlich mit Diabetes-schutzschuhen um“, wusste Monika Spengler zu berichten. Während einige Krankenkassen, wie die DAK Gesundheit, die Empfehlungen gut umsetzen, bestehe bei vielen anderen Kostenträgern, insbesondere in der Risikoklasse I, eine sehr unterschiedliche Auffassung, was als Schutzschuh für Diabetespatienten anzusehen ist. Schuhe ohne ausreichende Sohlenversteifung oder mit einfachen Einlegesohlen könnten durchaus auch darunter zu finden sein – was den Empfehlungen zur risikoklassengerechten Schuhversorgung klar widerspricht.

„Die Orthopädieschuhtechnik muss sich hier auch an die eigene Nase packen“, sagte Jürgen Stumpf, schließlich seien noch keine Versuche unternommen worden, die Kriterien für Diabetesschutzschuhe klar zu definieren. Da der GKV-Spitzenverband derzeit an die Fachgesellschaften mit der Bitte um die Formulierung genauerer Qualitätsanforderungen herangetreten sei, sei die Orthopädieschuhtechnik jetzt gefragt, genauere Anforderungen zu formulieren. Die DGOOC sei mit diesem Anliegen bereits auf ihn zugekommen.

Zwar gebe es bereits eine ganze Reihe an Kriterien, die als – nicht verschriftlicher – Konsens angesehen werden können, wie zum Beispiel ein versteiftes Schuhgelenk, das Vermeiden drückender Nähte, das Fehlen von Vorderkappen, gepolsterte Laschen und Schaftränder, genügend Zehenraum, eine ausreichende Breite und die Auswechselbarkeit des Fußbetts.

„Aber nirgendwo ist zum Beispiel definiert, wie stark eine Sohlenversteifung ausfallen sollte oder wie stark die Ballenrolle sein muss, damit sie mit genau dieser Sohlenversteifung auch wirkt“, so Stumpf. In der Praxis, so war man sich im Publikum einig, fallen die Sohlenversteifungen und Sohlenrollen je nach Schutzschuhhersteller sehr verschieden und häufig mangelhaft aus. Jürgen Stumpf wies darauf hin, dass es nötig ist, auch die Abrollrichtung der Ballenrolle modifizieren zu können, um unterschiedlichen Patienten gerecht werden zu können.

 

Viele Schutzschuhe passen nicht

In der Diskussion wurde deutlich, dass man eine ganze Reihe an neuen, genaueren Festlegungen treffen sollte – zum Beispiel darüber, wie hoch der Spitzenhub je nach Schuhgröße sein sollte.
Mehrere Orthopädieschuhmacher und Ärzte bemängelten die Passform und die häufig viel zu weiten Fersenbereiche der auf dem Markt befindlichen Schutzschuhe. Während sich einige Orthopädieschuhmacher dafür aussprachen, Diabetesschutzschuhe zu entwickeln, die leichter zugerichtet beziehungsweise individuell an den Patienten angepasst werden können, sprachen sich andere dafür aus, stärker mit den Herstellern ins Gespräch zu gehen und genau rückzumelden, wenn Schuhe nicht passen oder ein schlechtes Abrollverhalten zeigen.

Bemängelt wurde auch, dass viele Diabetesschutzschuhe das geforderte Volumen im Vorfußbereich nur über das Schaftvolumen gewährleisten, nicht aber mit unterschiedlichen Brandsohlenbreiten arbeiten. Hier sollte festgelegt werden, dass Diabetesschutzschuhe in verschiedenen Vorfußbreiten angeboten werden müssen, war man sich einig.

Unterschiede zwischen Risikoklasse II und III definieren

In der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass die Anforderungen für Schutzschuhe für Patienten der Risikoklasse II (Sensibilitätsverlust durch PNP oder relevante pAVK) möglicherweise mehr Gestaltungsspielraum zulassen sollten als Diabetesschutzschuhe für Risikoklasse III (Zustand nach plantarem Ulkus). Dr. Gerald Engels sprach sich dafür aus, Patienten, die noch einen flexiblen Fuß aufweisen, nicht mit starren Sohlenversteifungen zu versorgen. Ansonsten würde man immer wieder die Erfahrung machen, dass die Patienten den Schuh nicht tragen. „Und zu recht, denn damit sind sie tatsächlich überversorgt!“, betonte Dr. Engels. Für den Zustand nach Ulkus (Risikoklasse III) bestand in der Gruppe jedoch Konsens darüber, dass eine Sohlenversteifung mit adäquater Ballenrolle nötig sei.

Für die Erstellung genauerer Kriterien zu Diabetesschutzschuhen erklärte sich eine Gruppe aus Orthopädieschuhmachern und Ärzten aus dem Workshop bereit. Wie Jürgen Stumpf sagte, könnten auch neuere Studien von Sicco Bus die Evidenz einer angepassten, individualisierten Schuhversorgung hinsichtlich einer verbesserten Druckreduktion  belegen, auch wenn die Schuhe, die in seinen Studien eingesetzt wurden, nicht in allen Punkten den deutschen diabetischen Schutzschuhen entsprechen.

Des Weiteren wurde ein Kriterium für diabetesadaptierte Fußbettungen (DAF) im Hilfsmittelverzeichnis zur Diskussion gestellt: dass diabetesadaptierte Fußbettungen „keine Pelotten und Stufen in der Oberfläche“ enthalten dürfen. Im Sinne der Druckentlastung und -umverteilung könne man es heute nicht mehr als ratsam ansehen, keinerlei „Stufen“ in der DAF vorzusehen, so die Auffassung von Jürgen Stumpf und Monika Spengler.  „Das Hilfsmittelverzeichnis wird derzeit neu geschrieben, daher besteht jetzt die  Chance, hier einen Hinweis zu geben!“

Risikoklasse VI - Versorgung nach Amputation

Jürgen Stumpf berichtete von der Tätigkeit der Arbeitsgruppe, die derzeit orthopädie­schuhtechnische Anforderungen für die Versorgung nach Fußteilamputation (Risikoklasse VI) konkretisiert. Dies sei dringend nötig, da die Orthopädietechnik gerade an schriftlichen Empfehlungen arbeite, die aus Sicht der ­Orthopädieschuhtechnik nicht der Versorgung des diabetischen Fußsyndroms gerecht werden. Einige dort empfohlene Prothesen seien – zumindest ohne individuelle Anpassungen – für die Risikoklasse VI geradezu schädlich, so Stumpf.

Kurz andiskutiert wurde, ob die Zertifizierung für OSM, die die AG FUSS der ADE Rheinland-Pfalz/Saarland anbietet, auch bundesweit für die AG FUSS ein­geführt werden sollte. Eine DDG-Zertifizierung der Orthopädieschuhmacher erschien den Teilnehmern sehr sinnvoll, allerdings wurde es als realistischer ­angesehen, diese Zertifizierung in den regionalen Gruppen der AG FUSS einzuführen. Dr. Sibylle Brunk-Loch erklärte sich bereit, interessierten Gruppen die erarbeiteten Vorgaben aus Rheinland-Pfalz zur Verfügung zu stellen.

Dünne Vertragslandschaft

Die Versorgungssituation des Diabetischen Fußsyndroms ist in den unterschiedlichen Bundesländern je nach Vertragslage mit den Krankenkassen sehr unterschiedlich und teilweise stark ausbaufähig, zeigten drei Vorträge im Plenum. Dr. Karin Schlecht, Eisenach, berichtete, dass es in Thüringen immerhin einen Strukturvertrag mit der AOK plus gibt. Die Vergütung innerhalb dieses ­Vertrages erfolge annähernd adäquat, so Dr. Schlecht, wohingegen Behandlungen außerhalb des AOK-Vertrags eine „betriebswirtschaftliche Katastrophe“ seien und nicht einmal mit der Hälfte des ­Betrags vergütet werden. In Thüringen existieren jedoch 25 Diabetes-Fußambulanzen, die leitliniengerecht und nach Kriterien der AG-Fuß DDG arbeiten.

Sehr viel düsterer sieht es in Baden-Württemberg aus, berichtete Dr. Bettina Born, Reutlingen. Hier gibt es nur sieben DDG-zertifizierte ambulant-stationäre Einrichtungen, zwei rein ambulante Einrichtungen und eine stationäre Einrichtung – „das sind 1,31 Einrichtungen pro eine Million Bewohner“, rechnete Dr. Born vor. Zudem gebe es noch keinen  übergreifenden Strukturvertrag zur Fußversorgung.

Allerdings hat sich das Sozialministerium Baden-Württemberg nun einen Maß­nahmenplan vorgenommen, der den Bericht des Fachbeirats Diabetes Baden-Württemberg berücksichtigt. Der Plan beinhaltet unter anderem, ambulante und stationäre Einrichtungen mit besonderer Qualifikation, wie das DDG-Zertifikat zu fördern. Außerdem sollen Anreize zum Fußerhalt gesetzt werden und ein Zweitmeinungsverfahren bei Major-Amputationen eingeführt werden. Prozesse und Leitlinien bei chronischen Wunden sollen etabliert werden, eine rasche Versorgung mit Interimsorthesen und Schuhen vorangetrieben werden. Ärzte und Pflegepersonal sollen weiterqualifiziert werden. Das Sozialministerium stellt in Aussicht, auch die Vergütungsstruktur anzupassen.

Auch in Hessen gibt es nur wenige DDG-zertifizierte Einrichtungen, berichtete Dr. Michael Eckard, Bad Nauheim und Gießen. Auf rund 6 Millionen Einwohner kommen 5 stationäre und 8 ambulante Einrichtungen. Es gibt nur ein bis zwei hochselektive Verträge mit ein oder zwei Kliniken. Allerdings hat sich eine Initiative der Diabetologen Hessen gegründet. Mit vier Schwerpunktpraxen tes­ten sie einen auf das Diabetische Fußsyndrom umgemünzten Wundvertrag der BEK, der damals nicht zustande gekommen war. Seit 2006 ist zudem das Fußnetz Mittelhessen aktiv, das inzwischen 179 Mitglieder vereint, darunter 9 OSM und 33 Podologen.

Muster-Fußvertrag entwickelt

Dr. Sibylle Brunk-Loch berichtete, dass der Bundesverband Niedergelassener Diabetologen (BVND) unter Einbeziehung von Vertretern der AG FUSS einen Muster-Fußversorgungsvertrag samt Honoraren entwickelt hat. Dieser kann bei Bedarf zur Verhandlung mit den Krankenkassen über IV-Verträge genutzt werden und ist über den BVND oder den Vorstand der AG FUSS erhältlich.

Keine Evidenz für die Hyperbare Sauerstofftherapie

Prof. Maximilian Spraul, Rheine, berichtete über eine kritische Stellungnahme gegenüber dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), die er zusammen mit Prof. Ralf Lobmann zur Hyperbaren Sauerstofftherapie (HBO) abgegeben hat. Aufgrund eines Urteils des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2008 müssen Krankenkassen derzeit die Hyperbare Sauerstofftherapie bei Patienten mit Ulcera im Wagner-III-Stadium erstatten. Das IQWiG schrieb in seinem Vorbericht im Dezember 2015, die ergänzende HBO würde den vollständigen Wundverschluss und die Wundheilung gegenüber einer alleinigen Standardwundversorgung beim diabetischen Fußsyndrom deutlich begünstigen.

Dem widersprach Prof. Spraul jedoch vehement. Detailliert zeigte er die Schwächen und selektive Lektüre der Studien auf, die das IQWiG für seine Aussagen zugrunde gelegt hatte. Er wies darauf hin, dass die HBO insbesondere bei schlecht durchbluteten Füßen, anders als man erhofft hatte, keinerlei Vorteile zeigt. Er führte mehrere neuere Studien an (Chochrane Review 2015, Margolis 2013 sowie eine randomisierte, doppelt-verblindete Studie von Fedorko 2016), die vom IQWiG noch nicht berücksichtigt worden sind. Diese hätten gezeigt, dass es keine Evidenz für die Wirksamkeit der HBO gibt – sowohl hinsichtlich Abheilung von Ulcera als auch hinsichtlich der Amputationsvermeidung.

„Trotzdem ist die HBO in Deutschland voll erstattungsfähig!“, kritisierte Prof. Spraul, „wohin­gegen wir Hilfsmittel wie den TCC, deren Evidenz unbestritten ist, in Deutschland immer noch nicht erstattet bekommen“. Jetzt sei der endgültige Bericht des IQWiG im 2. Quartal 2016 abzuwarten.

Kommunikation mit den Kostenträgern ausbauen

Die beiden Orthopädieschuhmachermeis­ter Thomas Werne und Thomas Ehrle berichteten, dass sich in einem Qualitätszirkel aus der Innung Baden-Württemberg Orthopädie­schuhmacher und Fachärzte mit Vertretern der regionalen AOK und des MDK getroffen haben, um die ortho­pädieschuhtechnische Versorgung des diabetischen Fußsyndroms näher zu erläutern.

Insbesondere zur Risikoklasse VII, die im letzten Jahr von Akteuren der AG FUSS und des DGOOC-Beratungsausschusses verabschiedet worden war, stellten sie für die Krankenkassenmitarbeiter Fotos der verschiedenen empfohlenen Hilfsmittelversorgungen zusammen. Diesen stellten sie Hilfsmittelausführungen gegen­über, die nach heutigem Wissensstand nicht mehr verwendet werden sollten.

Die Krankenkassenmitarbeiter hatten berichtet, dass ihnen häufig unzureichend ausgefüllte und begründete Verordnungen die Entscheidungsfindung bei der Kostenerstattung erschweren. Beide Seiten sprachen sich für eine Verbesserung der Kommunikation zwischen Leis­tungserbringern und Krankenkassen aus.

Der Qualitätszirkel forderte eine Vereinfachung der Bewilligungsverfahren. Ebenso eine angemessenere Vergütung für die aufwändige Versorgung von Pa­tienten, die unter einer Polyneuropathie, einem Charcotfuß, Wundheilungsstörungen, einer pAVK oder MRSA-Befall leiden. Im Sinne der Versorgungsqualität sahen Werne und Ehrle den bundesweiten Ausbau interdisziplinärer Versorgungsstrukturen und zertifizierter Fortbildungen für unabdingbar an.

Jubiläumsveranstaltung in Stuttgart

Das 25-jährige Jubiläum der Jahrestagung AG FUSS findet vom 10. bis 11. März 2017 in Stuttgart statt, Gastgeber ist dann AG FUSS-Sprecher Prof. Ralf Lobmann. Für 2018 lädt Dr. Karin Schlecht nach Eisenach ein.

Artikel aus Ausgabe 4/2016

 

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
Schuhsohle
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