11. Mai 2016

Hohe Dunkelziffer bei Neuropathie

Der wissenschaftliche Beirat der Aufklärungsinitiative „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?“ (v.l.n.r.): Prof. Kristian Rett, Prof. Karlheinz Reiners, Prof. Ralf Lobmann, Prof. Dan Ziegler, Prof. Oliver Schnell).

Die neuesten Daten der PROTECT-Studie, die im Rahmen der Pressekonferenz der Aufklärungsinitiative  „Diabetes!  Hören  Sie  auf  Ihre  Füße“  anlässlich  der  51.  Jahrestagung  der Deutschen  Diabetes  Gesellschaft  (DDG)  der  Öffentlichkeit  vorgestellt  wurden,  verdeutlichen,  wie wichtig die Aufklärung über die diabetische Neuropathie und die regelmäßige Untersuchung der Füße sind. Die alarmierenden Ergebnisse der Studie zeigen: Viele Menschen mit Diabetes sind von einer Neuropathie betroffen – häufig ohne es zu wissen.

Prof.  Oliver  Schnell,  Geschäftsführender  Vorstand  der  Forschergruppe  Diabetes  e.V.  am Helmholtz Zentrum München und Kurator der Deutschen Diabetes-Stiftung, stellte die neueste Auswertung der fortlaufenden PROTECT-Studie 1  vor. Berücksichtigt wurden die Untersuchungsergebnisse von insgesamt 1589 Studienteilnehmern aus den Jahren 2013 bis 2015. Die Untersuchungen beinhalteten die Überprüfung von Temperatur-, Druck- und Vibrationswahrnehmung sowie die Palpation der Fußpulse. Zusätzlich wurden der Langzeitblutzucker (HbA 1c -Wert) und der BMI erfasst und ausgewertet.

Ziel der Studie war es, die Prävalenz und die Risikofaktoren bei diagnostizierter und nicht diagnostizierter, schmerzhafter und schmerzloser distal sensorischer Polyneuropathie (DSPN) zu ermitteln. Die schmerzhafte DSPN wurde als Vorhandensein von DSPN mit Schmerz und/oder Brennen in  den  Füßen  im  Ruhezustand  und  die  schmerzlose  DSPN  als  Vorhandensein  von  DSPN  mit Parästhesien,  Taubheitsgefühl  oder  fehlenden  Symptomen  definiert.  

Die  Ergebnisse  der  Studie sind alarmierend. Bei fast jedem zweiten Untersuchten zeigte sich ein Verdacht auf eine DSPN, die jeweils in zwei Dritteln der Fälle schmerzhaft beziehungsweise zuvor nicht diagnostiziert worden war.  Etwa jeder dritte der Untersuchten ohne diagnostizierten Diabetes hatte einen auffälligen HbA 1c -Wert (> 5,7) und somit ein erhöhtes Diabetesrisiko. Deshalb sollten effektive Strate­gien zur Vermeidung der Unterdiagnose von Diabetes und Neuropathie implementiert werden, empfahl Schnell.

Die Rolle der B-Vitamine bei der diabetischen Neuropathie
„Die B-Vitamine spielen bei Menschen mit Diabetes eine besonders wichtige Rolle. Ein Mangel oder eine unzureichende Verfügbarkeit fast aller B-Vitamine führt zu empfindlichen Störungen der Nervenfunktion“, erklärte Prof. Karlheinz Reiners, Facharzt für Neurologie, Würzburg. So hat das Vitamin B 1  einen entscheidenden Einfluss auf das zentrale und das periphere Nervensystem. Im peripheren Nervensystem ist Vitamin B 1  vor allem für die Erregungsleitung im Nerven und die Aufrechterhaltung  der  Muskulatur  verantwortlich.  Hier  erzeugt  ein  Vitamin  B 1 -Mangel  vor  allem  eine axonale Neuropathie und Muskelatrophie, die an den distalen Beinmuskeln durch die axonale motorische Polyneuropathie nochmals akzentuiert wird.  

Reiners wies darauf hin, dass Menschen mit Diabetes überproportional häufig an einem Vitamin B 12 -Mangel leiden.  Dieser Mangel könne eine diabetische Neuropathie verstärken. Daher sei bei diesen Patienten die Überprüfung der Vitamin B 12 -Spiegel und der von Vitamin B 12  abhängigen Metabolite sinnvoll. Eine hochdosierte tägliche orale Gabe von Vitamin B 12 sei  als therapeutisch gleichwertig mit der Substitution durch die klassische Injektionsbehandlung anzusehen.

Neue Wege in der Früherkennung
Etwa  jeder  dritte  Diabetiker  ist  von  der  distal-symmetrischen  sensomotorischen  Polyneuropathie (DSNP) betroffen, die mit quälenden neuropathischen Schmerzen, schmerzlosen Fußulzera, erhöhter kardiovaskulärer Sterblichkeit und eingeschränkter Lebensqualität einhergeht. Prof. Dan Ziegler, Stellvertretender Direktor am Institut für Klinische Diabetologie des Deutschen Diabetes-Zentrums der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf und  Sprecher  der  Arbeitsgemeinschaft  „Diabetes  und  Nervensystem“  der  DDG, stellte zwei neue Untersuchungsmethoden in der Diagnostik  von  Neuropathien  vor:  die  Hautbiopsie  (3  mm  Stanzbiopsie)  und  die  konfokale  Laser-Scanning Cornea-Mikroskopie (CCM).

Die Hautbiopsie ist eine Methode zur Quantifizierung der intraepidermalen Nervenfaserdichte  an  den  distalen  unteren  Extremitäten.  Die Abnahme der Länge und Dichte der Nervenfasern in der Hornhaut korreliere in der Regel mit dem Schweregrad der DSPN. „Die mit diesen Methoden gewonnenen Daten weisen darauf hin, dass die Neuropathie keinesfalls eine „Spätkomplikation“  des  Diabetes,  sondern  frühzeitig  durch  strukturelle  Veränderungen  nachweisbar ist“, so Ziegler.

Kooperation statt Amputation
Alle 15 Minuten wird in Deutschland eine  Diabetes-assoziierte Amputation vorgenommen. „Insgesamt muss  in  Deutschland  von  rund  50000  nicht-traumatischen  Amputationen  bei  Menschen mit einem Diabetes mellitus ausgegangen werden“, erklärte Prof. Dr. med. Ralf Lobmann, Ärztlicher Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Geriatrie am Klinikum Stuttgart. Um unnötige Amputationen zu vermeiden, sei ein interdisiziplinäres und multidisziplinäres Setting für den Patienten ideal. „Eine frühzeitige und koordinierte sowie strukturierte Wundversorgung kann bis zu 80 Prozent der Fälle des diabetischen Fußsyndroms zur Abheilung bringen“, so Lobmann.  Das Motto der Behandlung von Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom müsse „Kooperation statt Amputation“ lauten.

Gleichzeitig sprach er sich gegen die Substitution des Arztes durch nicht-ärztliche Mitarbeiter aus. Dies würde weder der Verbesserung der Patientenversorgung noch der Kosteneinsparung dienen und überschreite oft die Grenzen zu genuin ärztlichen Aufgaben.