Hohe Dunkelziffer bei Neuropathie

Die neuesten Daten der PROTECT-Studie, die im Rahmen der Pressekonferenz der Aufklärungsinitiative „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße“ anlässlich der 51. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, verdeutlichen, wie wichtig die Aufklärung über die diabetische Neuropathie und die regelmäßige Untersuchung der Füße sind. Die alarmierenden Ergebnisse der Studie zeigen: Viele Menschen mit Diabetes sind von einer Neuropathie betroffen – häufig ohne es zu wissen.
Prof. Oliver Schnell, Geschäftsführender Vorstand der Forschergruppe Diabetes e.V. am Helmholtz Zentrum München und Kurator der Deutschen Diabetes-Stiftung, stellte die neueste Auswertung der fortlaufenden PROTECT-Studie 1 vor. Berücksichtigt wurden die Untersuchungsergebnisse von insgesamt 1589 Studienteilnehmern aus den Jahren 2013 bis 2015. Die Untersuchungen beinhalteten die Überprüfung von Temperatur-, Druck- und Vibrationswahrnehmung sowie die Palpation der Fußpulse. Zusätzlich wurden der Langzeitblutzucker (HbA 1c -Wert) und der BMI erfasst und ausgewertet.
Ziel der Studie war es, die Prävalenz und die Risikofaktoren bei diagnostizierter und nicht diagnostizierter, schmerzhafter und schmerzloser distal sensorischer Polyneuropathie (DSPN) zu ermitteln. Die schmerzhafte DSPN wurde als Vorhandensein von DSPN mit Schmerz und/oder Brennen in den Füßen im Ruhezustand und die schmerzlose DSPN als Vorhandensein von DSPN mit Parästhesien, Taubheitsgefühl oder fehlenden Symptomen definiert.
Die Ergebnisse der Studie sind alarmierend. Bei fast jedem zweiten Untersuchten zeigte sich ein Verdacht auf eine DSPN, die jeweils in zwei Dritteln der Fälle schmerzhaft beziehungsweise zuvor nicht diagnostiziert worden war. Etwa jeder dritte der Untersuchten ohne diagnostizierten Diabetes hatte einen auffälligen HbA 1c -Wert (> 5,7) und somit ein erhöhtes Diabetesrisiko. Deshalb sollten effektive Strategien zur Vermeidung der Unterdiagnose von Diabetes und Neuropathie implementiert werden, empfahl Schnell.
Die Rolle der B-Vitamine bei der diabetischen Neuropathie
„Die B-Vitamine spielen bei Menschen mit Diabetes eine besonders wichtige Rolle. Ein Mangel oder eine unzureichende Verfügbarkeit fast aller B-Vitamine führt zu empfindlichen Störungen der Nervenfunktion“, erklärte Prof. Karlheinz Reiners, Facharzt für Neurologie, Würzburg. So hat das Vitamin B 1 einen entscheidenden Einfluss auf das zentrale und das periphere Nervensystem. Im peripheren Nervensystem ist Vitamin B 1 vor allem für die Erregungsleitung im Nerven und die Aufrechterhaltung der Muskulatur verantwortlich. Hier erzeugt ein Vitamin B 1 -Mangel vor allem eine axonale Neuropathie und Muskelatrophie, die an den distalen Beinmuskeln durch die axonale motorische Polyneuropathie nochmals akzentuiert wird.
Reiners wies darauf hin, dass Menschen mit Diabetes überproportional häufig an einem Vitamin B 12 -Mangel leiden. Dieser Mangel könne eine diabetische Neuropathie verstärken. Daher sei bei diesen Patienten die Überprüfung der Vitamin B 12 -Spiegel und der von Vitamin B 12 abhängigen Metabolite sinnvoll. Eine hochdosierte tägliche orale Gabe von Vitamin B 12 sei als therapeutisch gleichwertig mit der Substitution durch die klassische Injektionsbehandlung anzusehen.
Neue Wege in der Früherkennung
Etwa jeder dritte Diabetiker ist von der distal-symmetrischen sensomotorischen Polyneuropathie (DSNP) betroffen, die mit quälenden neuropathischen Schmerzen, schmerzlosen Fußulzera, erhöhter kardiovaskulärer Sterblichkeit und eingeschränkter Lebensqualität einhergeht. Prof. Dan Ziegler, Stellvertretender Direktor am Institut für Klinische Diabetologie des Deutschen Diabetes-Zentrums der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Diabetes und Nervensystem“ der DDG, stellte zwei neue Untersuchungsmethoden in der Diagnostik von Neuropathien vor: die Hautbiopsie (3 mm Stanzbiopsie) und die konfokale Laser-Scanning Cornea-Mikroskopie (CCM).
Die Hautbiopsie ist eine Methode zur Quantifizierung der intraepidermalen Nervenfaserdichte an den distalen unteren Extremitäten. Die Abnahme der Länge und Dichte der Nervenfasern in der Hornhaut korreliere in der Regel mit dem Schweregrad der DSPN. „Die mit diesen Methoden gewonnenen Daten weisen darauf hin, dass die Neuropathie keinesfalls eine „Spätkomplikation“ des Diabetes, sondern frühzeitig durch strukturelle Veränderungen nachweisbar ist“, so Ziegler.
Kooperation statt Amputation
Alle 15 Minuten wird in Deutschland eine Diabetes-assoziierte Amputation vorgenommen. „Insgesamt muss in Deutschland von rund 50000 nicht-traumatischen Amputationen bei Menschen mit einem Diabetes mellitus ausgegangen werden“, erklärte Prof. Dr. med. Ralf Lobmann, Ärztlicher Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Geriatrie am Klinikum Stuttgart. Um unnötige Amputationen zu vermeiden, sei ein interdisiziplinäres und multidisziplinäres Setting für den Patienten ideal. „Eine frühzeitige und koordinierte sowie strukturierte Wundversorgung kann bis zu 80 Prozent der Fälle des diabetischen Fußsyndroms zur Abheilung bringen“, so Lobmann. Das Motto der Behandlung von Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom müsse „Kooperation statt Amputation“ lauten.
Gleichzeitig sprach er sich gegen die Substitution des Arztes durch nicht-ärztliche Mitarbeiter aus. Dies würde weder der Verbesserung der Patientenversorgung noch der Kosteneinsparung dienen und überschreite oft die Grenzen zu genuin ärztlichen Aufgaben.