Leistungssportler Markus Rehm stellte zuletzt im August 2018 bei der Para-Leichtathletik-Europameisterschaft in Berlin mit 8,48 Meter einen neuen Weltrekord im Weitsprung auf. Der 30-jährige Orthopädie-Techniker-Meister aus Leverkusen übertraf damit u.a. seinen damaliegen Rekordsprung von 8,21 Meter, der ihm die Goldmedaille der Paralympics 2016 in Rio de Janeiro einbrachte.
Marcus Rehm verlor infolge eines Bootsunfalls als 14-Jähriger sein rechtes Bein unterhalb des Knies. Seither trägt er eine Prothese und bei seinen sportlichen Aktivitäten eine Karbon-Sportprothese. Neben Prothesen verhelfen auch von Orthopädie-Technikern individuell angepasste Bandagen, Orthesen, orthopädische Einlagen und medizinische Kompressionsstrümpfe Leistungssportlern zu weiteren Höchstleistungen, indem sie Verletzungen verhindern oder zur schnelleren Heilung beitragen. Bestes Beispiel: Der aus Deutschland stammende Basketball-Superstar Dirk Nowitzki setzt auch in seiner mittlerweile 21. NBA-Saison mit den Dallas Mavericks auf individuelle orthopädietechnische Versorgungen.Zwei Geschichten und ein Gesundheitshandwerk, das diese Geschichten maßgeblich mitschreibt: Orthopädietechnik-Mechaniker bzw. Orthopädietechnik-Mechanikerin. Was machen Orthopädie-Techniker? Welche Kompetenzen erwerben sich Auszubildende und welche Voraussetzungen müssen Bewerber für einen Ausbildungsplatz mitbringen? Diese und viele weitere Fragen beantwortet der folgende Text.
Technisches Interesse, handwerkliches Geschick und großes Einfühlungsvermögen
Der Beruf des Orthopädie-Technikers meistert die Schnittstelle zwischen moderner Technik und dem Menschen, indem er Technik, Handwerk und Medizin – inklusive digitaler Verfahrenstechniken – verbindet. Im interdisziplinären Team gemeinsam mit Ärzten und Therapeuten versorgen Orthopädie-Techniker die Patienten mit orthopädietechnischen Hilfsmitteln. Hierzu zählen künstliche Gliedmaßen (Prothesen), stützende und stabilisierende Schienen und Bandagen, die auf dem Körper getragen werden (Orthesen), sowie Gehhilfen und Rollstühle (Rehabilitationstechnik). Am Ende ihrer Ausbildung können Gesellen modernste Hilfsmittel selbst herstellen, industriell vorgefertigte Passteile an Patienten anpassen sowie Patienten und das interdisziplinäre Team beraten. Bewerber für eine Ausbildung zum Orthopädie-Techniker sollten daher Spaß am gewissenhaften Arbeiten, an Naturwissenschaften und handwerklichen Tätigkeiten mit klassischen und modernen Materialien haben sowie ein räumliches Vorstellungsvermögen besitzen. Darüber hinaus sollten sie ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen aufweisen, ohne Berührungsängste vor Narben und Wunden an Körper und Seele der Patienten. Ausbildungsbetriebe empfehlen einen mittleren oder höheren Schulabschluss. Mit einem Hauptschulabschluss erfüllen Bewerber aber ebenfalls die formalen Voraussetzungen. Wer bereits ein (Schul-)Praktikum in einer Orthopädie-Technik-Werkstatt oder einem Sanitätshaus absolviert hat, erhöht seine Chancen auf einen Ausbildungsplatz.
Dreijährige duale Gesellenausbildung
Die dreijährige Ausbildung zum Orthopädie-Techniker zählt zu den „Dualen Ausbildungen“. Der praktische Teil der Ausbildung wird in einem der nach Angaben des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT) derzeit rund 2.000 Ausbildungsbetriebe vermittelt. Der theoretische Teil erfolgt in einer der bundesweit 13 Berufsschulen (siehe Seite 68).
Ausbildungsverordnung und Rahmenlehrplan in eigener Abstimmung
Die jüngste Novelle der Ausbildungsverordnung stammt vom 15. März 2013. In der aktuellen „Verordnung über die Berufsausbildung zum Orthopädietechnik-Mechaniker und zur Orthopädietechnik-Mechanikerin“ ist die Dauer der Ausbildung auf drei Jahre festgelegt. Sie sieht zudem eine zweiteilige Gesellenprüfung vor und enthält den Ausbildungsrahmenplan, der die Inhalte der betrieblichen Ausbildung bundesweit einheitlich vorgibt. In Deutschland besitzen die Bundesländer die sogenannte Kulturhoheit, sodass jedes Bundesland für die Gesetzgebung für das Schul-, Hochschul- und Erziehungswesen innerhalb seiner Landesgrenzen zuständig ist. Damit sich die Ausbildungsinhalte in den Bundesländern nicht zu sehr unterscheiden und eine Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der Qualitätsstandards gewährleistet wird, erarbeitet die „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder“ (Kultusministerkonferenz) einen länderübergreifenden Rahmenlehrplan des berufsbezogenen Unterrichts an den Berufsschulen. Mit Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 22. März 2015 trat der bis heute gültige „Rahmenlehrplan Orthopädietechnik-Mechaniker und Orthopädietechnik-Mechanikerin“ in Kraft. Die einzelnen Bundesländer können den Rahmenlehrplan eins zu eins übernehmen. Sollten sie es vorziehen, einen eigenen Lehrplan aufzustellen, muss er sich eng an die Vorgaben der Kultusministerkonferenz anlehnen.
Ergänzende überbetriebliche Lehrlingsunterweisung
Da nicht jeder Ausbildungsbetrieb aufgrund seiner Struktur in der Lage ist, alle Ausbildungsinhalte abzubilden und die neuesten Technologien einzubeziehen, bieten mehrere Kammerbezirke und Landesinnungen für Orthopädie-Technik als dritten Ausbildungsbaustein eine „Überbetriebliche Lehrlingsunterweisung“ (ÜLU) an.
Von Bandagen über Prothesen bis Rehabilitationstechnik
Der Ausbildungsrahmenplan für den betrieblichen Teil der Ausbildung sieht das Erlangen von berufsprofilgebenden und integrativen Fertigkeiten, Kenntnissen und Fähigkeiten vor, die ein Orthopädie-Techniker im Laufe der Ausbildung erlangen muss.
Vielfältige Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten
Gemeinsam vermitteln Betriebe, Berufsschulen und – sofern vorhanden – ÜLUs berufsbezogene und berufsübergreifende Kompetenzen, die die Auszubildenden befähigen, sowohl ihre spezifischen Aufgaben in Beruf und Betrieb zu erfüllen als auch soziale, ökonomische und ökologische Verantwortung zu übernehmen (siehe Grafik auf der vorherigen Seite).
Versorgungen Planen, Herstellen und Anpassen
Laut Rahmenlehrplan absolvieren die Auszubildenden zudem pro Lehrjahr 280 Unterrichtsstunden zumeist im Blockunterricht, also verteilt auf mehrere Tage oder Wochen am Stück, an einer der 13 Berufsschulen. Die insgesamt 840 Unterrichtsstunden der Ausbildung gliedern sich in elf Lernfelder. Im ersten Lehrjahr stehen folgende Lernfelder auf dem Programm: Beruf und Betrieb präsentieren, orthopädische Fußeinlagen herstellen und anpassen, Rehabilitationsmittel montieren und konfektionierte Hilfsmittel der unteren Extremität anpassen. Im zweiten Jahr erlernen die Azubis das Herstellen und Anpassen von individuellen Orthesen der unteren Extremität, von Bandagen und Miedern für den Rumpf und von Orthesen für die obere Extremität sowie die Herstellung von Fuß- und Unterschenkelprothesen. Das dritte und letzte Lehrjahr umfasst das Herstellen von Oberschenkelprothesen, das Herstellen und Anpassen von Korsetten, das Anpassen von individuellen Rehabilitationsmitteln sowie die Realisierung und Präsentation von individuellen Versorgungen in den Bereichen Orthetik, Prothetik oder Rehabilitationstechnik – je nach gewähltem Schwerpunkt.
Ergänzende überbetriebliche Lehrlingsunterweisung
Mehrere Handwerkskammern und Landesinnungen für Orthopädie-Technik haben 2018 zusätzlich zur betrieblichen und schulischen Ausbildung auf überbetriebliche Lehrlingsunterweisungen (ÜLUs) gesetzt. Sie bieten ÜLUs zur systematischen Vertiefung der beruflichen Grund- und Fachbildung in Werkstätten an. Damit soll ein breites, einheitliches Ausbildungsniveau unabhängig von der Spezialisierung des einzelnen Ausbildungsbetriebs erzielt werden. Der Lehrunterweisungsplan für ÜLUs im Bereich Orthopädie-Technik wurde vom Heinz-Piest-Institut für Handwerkstechnik an der Leibniz Universität Hannover in Zusammenarbeit mit dem Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik erarbeitet. Der bundesweit einheitliche Lehrunterweisungsplan sieht vier Kursthemen vor: 1) Materialverarbeitung in der Orthopädie-Technik, 2) situationsgerechter Umgang mit Patienten sowie Messen und Abformen, 3) moderne Techniken in der Prothetik und Orthetik sowie 4) Reha-, Stoma-, Inkontinenzversorgung und Anti-Dekubitus-Hilfsmittel. Fragen zu ÜLUs beantworten die jeweils zuständigen Handwerkskammern. Eine Liste mit Kontaktdaten findet sich unter: www.zdh.de.
Zwei Prüfungen – Ein Abschluss
Die Ausbildung gilt als abgeschlossen, wenn die zweiteilige Gesellenprüfung bestanden wurde. Der erste Teil der Prüfung wird am Ende des zweiten Lehrjahres abgelegt und umfasst die Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten, die in den ersten drei Halbjahren der Ausbildung im Betrieb und in der Berufsschule erlernt wurden. Hierzu gehört auch die Erstellung zweier Arbeitsproben innerhalb von sechseinhalb Stunden. Im zweiten Teil der Gesellenprüfung – am Ende des dritten und letzten Lehrjahres – muss dem Auszubildenden der Nachweis gelingen, dass er in der Lage ist, ein individuelles Hilfsmittel unter Berücksichtigung von Anatomie, Pathologie und Biomechanik anzufertigen und anzupassen sowie Patienten, Ärzte und medizinische, pflegerische und therapeutische Fachkräfte in Bezug auf Hilfsmittel zu beraten. Neben den mündlichen und schriftlichen Aufgaben erhält der Prüfling maximal 42 Stunden Zeit, um einen betrieblichen Auftrag von der Planung über die Umsetzung bis hin zur Beratung und Dokumentation durchzuführen. Zudem sollte der Auszubildende allgemeine wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge der Berufs- und Arbeitswelt darstellen und beurteilen können.
Im Schnitt bestehen seit 2005 pro Jahr etwa 400 Auszubildende die Gesellenprüfung und dürfen sich Orthopädietechnik-Mechaniker oder Orthopädietechnik-Mechanikerin nennen. Seit 2006 verzeichnet der Beruf einen besonders hohen Anstieg an Absolventen. Positiv entwickelt sich ebenfalls der Anteil der weiblichen Gesellinnen, die zuletzt 40 Prozent der Absolventen ausmachten (siehe Grafik oben).
Kostenaufwand – Verdienstmöglichkeiten
Der zu erwartenden Ausbildungsvergütung stehen Kosten für Lernmittel und Fahrten gegenüber. Die Übernahme der Kosten für die im Berufsschulunterricht benutzten Bücher durch die öffentliche Hand ist je nach Bundesland unterschiedlich, sodass auf die Auszubildenden auch unterschiedlich hohe Kosten für Bücher und Arbeitsblätter zukommen. Neben den Lehrmaterialien schlagen vor allem die Wohnungsmiete, falls der Ausbildungsbetrieb weit vom Elternhaus entfernt liegt, sowie Kosten für die Fahrt zum Ausbildungsbetrieb und zur Berufsschule zu Buche. Zur Ausbildungsvergütung gibt es keine offiziellen Angaben. Sie wird betriebsindividuell vereinbart. Im Anschluss an die Gesellenprüfung liegt laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit der mittlere Lohn eines Orthopädietechnik-Mechanikers oder einer Orthopädietechnik-Mechanikerin monatlich bei 2.498 Euro brutto mit Stand Ende 2016.
Fördermöglichkeit der Bundesagentur für Arbeit
Bei der Bundesagentur für Arbeit können Auszubildende die sogenannte Berufsausbildungshilfe (BAB) beantragen, wenn sie zum Beispiel aufgrund der weiten Entfernung zwischen Elternhaus und Ausbildungsbetrieb nicht bei den Eltern wohnen können. Die Höhe der BAB hängt zum einen von den Lebensunterhaltskosten wie Miete, Fahrtkosten oder Arbeitskleidung und zum anderen vom Einkommen des Auszubildenden, seiner Eltern oder des Lebenspartners ab.
Zahlreiche Perspektiven
Der nationale und internationale Arbeitsmarkt bietet Orthopädie-Technikern zahlreiche Möglichkeiten. Gesellen werden weltweit in Orthopädie-Werkstätten gesucht und gelten als wichtige Berufsgruppe für die internationale Entwicklungszusammenarbeit bei der Versorgung von Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Gleichzeitig sind Orthopädie-Techniker als Mitarbeiter im Vertrieb von Hilfsmittelherstellern gefragt. Wer im Anschluss an seine Lehre eine Meisterausbildung (Artikel zur Meisterprüfung folgt in Ausgabe 12/18) absolviert, kann sich mit einem eigenen Betrieb/Sanitätshaus selbstständig machen oder leitende Funktionen in einem Betrieb übernehmen. Gesellen steht zudem die Möglichkeit offen, ein Studium aufzunehmen, etwa in den Fachrichtungen Wirtschaft oder Technische Orthopädie/Orthobionik (Artikel zur akademischen Ausbildung folgt in Ausgabe 1/19).